Marie S. Ueltzen
Frühjahr 2020
Erster Lockdown in Deutschland
Videoarbeit, 2020

Du stehst gerade in Startlöchern, emsig aufgestellt aus Sehnsucht nach Veränderung. Nichts ist so von Zeitlosigkeit und Energie aufgeladen wie ein Neubeginn. Man nimmt etwas Waghalsiges in Angriff, es gibt Pläne für ein großes neues Ziel, und durch beharrliche Beschäftigung damit tut sich plötzlich eine Tür auf und dann noch eine.
Abenteuer generieren sich immer aus Ungewissem, man muss nur den Startschuss geben. Vorfreude gehört unbedingt dazu.
Ebenso der Abschied: die alte Hülle muss abgestreift werden und dann eine neue wachsen. Man will seinen jetzigen Lebensort verlassen, richtet sich mental schon ein in großen, interessanten neuen Gebäuden.
Es gibt schlafende Plätze, die geweckt werden wollen. Wenn man sich Dinge gut vorstellen kann, wenn man das gewohnt ist, kann das vollständig euphorisierend sein, denn im Moment der Vorstellung ist es real. Wie in einem Drogenrausch sieht du alle Dinge neu und anders, du beginnst nach innen und außen gleichzeitig zu leuchten.
Nur, dass hier sehr viel positive Kraft freigesetzt wird, da du ohne die Zuführung von bewusstseinsverändernden Substanzen träumst. Dann bricht eine Pandemie aus. Tatsächlich. Weltweit.
Es bleibt dir nichts anderes übrig:
Du ziehst die Handbremse – bei voller Fahrt! Um überhaupt weitermachen zu können, richtest du deinen Blick wieder nach innen – auf die Gedanken, Wünsche und sonstige Vorstellungen und versuchst sie umzulenken in das, was schon vorhanden ist.
Die frische Energie muss in den alten Möglichkeiten neu entfacht werden.
Wie schon so oft.
Ohne Demut kommt hier niemand weiter, sonst wird man schwermütig oder sogar verrückt.
Du kanalisierst also deine neue gigantische Ungeduld in möglichst viel Arbeit, die du dir für dich ausdenkst.
Mit Tunnelblick arbeitest du ununterbrochen. Du versuchst einen Ausdruck zu finden für deinen Zustand im unfreiwilligen Stillstand der Welt.
Die Gedanken und der Wille, all das in Form zu bringen, sind ja sowieso immer da, sogar, wenn du schläfst.
So beruhigt man sich etwas, man hat durch das selbständige Arbeiten schließlich Erfahrung mit dem Leben in unsicheren Zeiten.
Gehungert haben wir noch nie. Bisher.
Und nun versuchen wir alle, also wirklich die gesamte Weltbevölkerung, wir Menschen, zusammen über dieses gefährliche Virus hinwegzukommen.
Das sollten wir jedenfalls, wie wir auch über vieles andere, das uns schadet, hinwegkommen sollten. Im Grunde wissen wir ganz genau, was uns nicht gut tun wird auf Dauer.
Mit unserem stetigen Übermut und unserer massenhaften Bequemlichkeit graben wir uns ja allmählich kollektiv das Wasser ab.
Wir sind alle sehr egoistisch. Bisher schien es so, als seien die meisten Menschen im Grunde gutartig, nun kommt diese Einschätzung doch arg ins Wanken. Gut und Böse ist wohl gleichmäßig in uns vorhanden, ebenso wie Intelligenz und Dummheit und Vernunft und Unvernunft.
Entscheidend ist immer, welche Seite gerade den Ton angibt.
In der Zwischenzeit, und das ist nun beinahe schon ein Jahr, haben wir alle die fast manische Sehnsucht entwickelt, uns wieder treffen zu können, uns zu berühren, miteinander zu reden und fröhlich zu sein, Zuneigung zu zeigen, uns womöglich zu küssen und uns in den Armen zu liegen, am liebsten laut singend.
Allerdings, um genau all diese Dinge wieder sicher tun zu können, müssen wir genau dieses Verhalten unterdrücken.
Eine ganze Weile jedenfalls. Denn wenn wir immer wieder schwach werden, können wir genau das, wonach wir uns so verzweifelt sehnen, niemals erreichen.
Und das gemeinschaftliche Sehnsuchtsziel – also, alle müssen gesund bleiben, alle sollen wieder nah miteinander sein können – damit zerstören.
Und zwar immer und immer wieder. Ist die Sehnsucht wirklich größer als die Vernunft?
Sind wir wirklich so liederlich, dass wir durch unsere romantische Vorstellung von Freiheit Menschenleben gefährden?
Sind uns die anderen Menschen da draußen in der Welt wirklich so gleichgültig?
So gleichgültig wie immer schon? Derzeit ist nicht zu erkennen, welche Seite gewinnen wird. Gut und Böse sind nicht zu trennen.
Das eine generiert das andere.
Alles bleibt ein Wechselspiel – seit Anbeginn.



Marie S.Ueltzen - Sehnsucht zerstört ziel
15.01.- 15.02.21
Albert Hall - Projektraum der Künstler:innenhäuser Worpswede

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